günther birkenstock

Portrait_M.Mitscherlich„Er war
das Leben selber"

Ausschnitte aus einem Gespräch mit Margarethe Mitscherlich (geführt am 04.Juli 2008), über Emanzipation, Feminismus, die Unfähigkeit zu trauern und den Weg Deutschlands zu einer soliden Demokratie -und über die Persönlichkeit Alexander Mitscherlichs

gb (Günther Birkenstock): Sie waren in der Frauenbewegung der 70er Jahre aktiv, Sie haben Sich gegen den Abtreibungsparagraphen 218 eingesetzt und Sie haben 1977 in der ersten Ausgabe von Emma einen Artikel geschrieben: "Ich bin Feministin". Sehen Sie Sich auch heute noch als Feministin?

MM (Margarethe Mitscherlich): Wissen Sie, ich habe immer behauptet, und ich behaupte das auch heute noch so: Ich war von Geburt an Feministin. Ich hatte einen sehr netten, aber sehr beschäftigten Landarzt als Vater und eine Mutter, die keineswegs ohne Traurigkeit war, aber eigentlich das Leben und die Fröhlichkeit ins Haus (brachte). Er konnte gar nicht ohne sie sein, aber sie war die Seele des Hauses, auch im Sinne der Nachdenklichkeit, der Überlegenheit. Sie hat mich quasi aus dem Haus getrieben, als ich 14 war. Aber sie sagte: Du willst doch studieren. Und sie hat mir solange den Gedanken beigebracht, bis ich tatsächlich studieren wollte.
Ich habe mich mit meiner Mutter von Anfang an identifiziert, für mich war klar, meine Mutter ist mein Vorbild. Ja also meine Mutter. So will ich werden, die Frauen sind besser als Männer.

gb: Ist das immer noch ihre Überzeugung?

MM: Dass die Frauen besser an sich sind als Männer, ist Unsinn. Aber die Frauen lernen andere Arten mit Menschen umzugehen seit Tausenden von Jahren. Was Einfühlung betrifft. Sie sind fähig, sich selber nicht so wichtig zu nehmen, wie Männer sich wichtig nehmen.
20. Nein, eine Welt mit nur einem Geschlecht fänd ich äußerst langweilig. Auch diese leichte Naivetät, die Männer haben, diese Lust, sie gelegentlich zu verführen und sie kapieren es nicht mal. Das hat einem schon Spaß gemacht.

gb: Das klingt jetzt fast hinterlistig.

MM: Ja, aber Hinterlist kann ja sehr lustig sein, das braucht ja nicht bösartig sein. Schauen Sie, wenn die Frauen schon so in der Familie gehalten wurden und nicht in die Öffentlichkeit durften, die Männer verstehen mussten, die Kinder verstehen mussten, mit dem Personal umzugehen oder selber Personal zu sein und mit der Herrschaft umzugehen usw. Wenn Sie das alles gelernt haben. Wenn Sie diese Fähigkeiten, die ein Mann nicht gelernt hat, weil er es nicht lernen musste, nutzt, dann ist das noch lange nicht Intriganz. Es kann zu einer solchen werden, aber an sich ist das nur eine Nutzung der Fähigkeiten, die die Gesellschaft zu einem großen Teil aufgezwungen hat.
Also angeboren ist so was in größeren Mengen nie, sondern so was hat auch immer mit der Art, wie man in der Welt steht und was man lernen muss, ob man will oder nicht, zu tun.

gb: Wie stand denn Ihr Mann zu Ihrem feministischem Engagement? Hat den das gestört, fand er das toll?

MM: Also mein Mann behauptete immer, auch Feminist zu sein. Er war immer für das Frauenrecht und dass Frauen die gleichen Rechte haben. Dass Frauen auch beruflich in der Öffentlichkeit stehen sollten wie Männer, wenn sie die Lust und Fähigkeit haben, sich hier wie dort entfalten zu können.

gb: War das ernst gemeint?

MM: Das war absolut ernst gemeint. Er hatte dann ja ein Parkinson und war zunehmend verlangsamt und das war für ihn dann schwer zu ertragen, wenn ich öfter weg war. Sagen wir mal, beim Feminismus, für die Theorie war er sehr, für die Praxis war ich ihm etwas zu viel weg.
Wir hatten denselben Beruf. Er hat mir immer zu lesen gegeben, was er geschrieben hat. Er hat mich immer ernst genommen. Er hat verschiedentlich behauptet, dass ich intelligenter sei als er, was Unsinn war. Es war nur eine andere Form. Ich war realistisch und er war sozusagen deutscher Idealist. Ich war in vielem nüchtern, und das tat ihm gut. Und mir tat auch seine ungeheure Beweglichkeit und Neugierde und seine große Bildung, er hat mir viel gegeben. Und ich fühlte mich immer respektiert von ihm.

gb: Das klingt wie die ideale Beziehung.

MM: Na ja, Gott, das ist ein Aspekt. Das war einfach so. Das bedeutet nicht, dass er ein einfacher Mensch gewesen war. Er interessierte sich mal für dies und für jenes. Und seine Unruhe war mir oft zuviel. Ich hab gesagt, komm lass mich in Ruhe. Er sagte, das ist etwas Neues, das musst Du unbedingt wissen. Ich habe gesagt, ich will nichts Neues. Ich muss erstmal das Alte verdauen.
Da kann ich nicht anders sagen, (als) dass ich eigentlich kein anderes Leben hätte führen wollen.

gb: Gibt es eine Eigenschaft, die ihn besonders auszeichnete?

MM: Ein Assistent hat mal von ihm gesagt in Heidelberg: er war das Leben selber. Er war ungeheuer lebendig?

gb: Sie haben Deutschland stark kritisiert in Ihrem berühmtesten Buch, das Sie mit Ihrem Mann geschrieben haben, „die Unfähigkeit zu trauern". Würden Sie sagen, die Deutschen haben (inzwischen) gelernt zu trauern?

MM: Was ist trauern? ... Wenn man es ganz einfach nimmt, man hat einen Menschen verloren, mit dem man gefühlsmäßig sehr verbunden war und diese Beziehung ist plötzlich beendet und das tut schrecklich weh. Und wir als Analytiker würden sagen, von einem geliebten Objekt, das nicht mehr vorhanden ist, es ist ein verlorener Zustand. 
Wir haben ja Trauer viel weiter gefasst. Trauer und Melancholie usw, da sind die verschiedensten Gedanken hineingekommen. Natürlich auch dann, was wir gelernt haben in der Nazizeit und der Art dort, mit dem Tod der Mütter mit ihren Söhnen umzugehen. Wo dann überall in den Zeitungen stand: Für Führer, Volk und Vaterland ist unser Sohn und stolzer Trauer, und all so ein unglaublich blödsinniger Quatsch. 
Die Nazizeit war ja wirklich eine Zeit, die gegen jedes irgendwie nachdenkliche Gefühl überhaupt gegen Nachdenken, gegen Überlegung, es war ein plötzlicher Rückfall in eine primitive Arte der Ideale nicht nur, sondern auch, wie Menschen miteinander umgegangen sind. Sonst wäre das auch alles nicht möglich gewesen.
Was man gelernt auch während des Krieges, von den Soldaten, die haben nämlich nicht geschwiegen. Diese Massenerschießungen im Osten. Da hat man auch schon gelernt, zu welcher Unmenschlichkeit die Menschen fähig sind und dann von einem Tag zum andern vergessen.

gb: Ich bin ein bisschen hartnäckig. Sie haben den Deutschen ja ganz klar Verdrängung vorgeworfen, dass sie einfach nur vergessen wollen, nicht trauern wollen. Haben die Deutschen inzwischen gelernt zu trauern? In welchem Zustand empfinden Sie Deutschland heute?

MM: Wir beide sind uns einig, dass ein Volk am Ende dieses Rückfalls in Barbarei: heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt, der Führer war ein Gott, wir haben ihn angebetet, die Kinder beten zum ihm als Gott im Kindergarten, es war wirklich reine Religion, im schlimmsten Sinne geworden. Das dann ein Volk dasteht, alles verloren hat, materiell alles verloren, Achtung in der ganzen Welt verloren. Alle Tradition, die sie vorher hoch geachtet haben, waren nichts mehr wert. Also es gab nichts an ideellem, wie materiellen Gut, das sie nicht verloren haben. Dass ein solches Volk, um nicht in Depression und Massenselbstmord zu verfallen, dass das in Deutschland recht vital reagiert hat, nämlich dass es aufbaute, aufbaute, wo es nur konnte.

gb: Jetzt beschreiben sie es fast als normalen Mechanismus.

MM: Die konnten gar nicht anders. Die hätten sonst gar nicht anders existieren können. 
Wir haben ja dieses Buch geschrieben in den 50er Jahren. Und da haben sie gewiss nicht getrauert, sondern da haben sie ihren Wohlstand genossen, waren auf der richtigen Seite des Kalten Krieges, waren ganz und gar mit den Amerikanern identifiziert usw. Und da haben wir das Buch geschrieben, als sie auf Teufel komm raus, verdrängten. 
Sie fingen dann an Anfang der 60er Jahre als hier der Auschwitz-Prozess war und so etliche andere Prozesse. Im Radio wurde immer wieder davon gesprochen, aber relativ selten in den Schulen. Hatten wir auch, die ganzen Leute, die damals zur Schule gingen, nix. In den Familien nix, Schweigen. Das fing erst langsam in den 60er Jahren an. Wir haben das Buch 1967 veröffentlicht. 
Nachdenken war im täglichen Leben, was Schule und Familie und so betraf, keine Rede. Das fing dann in den 60er Jahren langsam an. Und das ist sehr viel stärker geworden und sehr viel breiter und tiefgehender geworden.

gb: Sie haben von Ihrer Irritation, Erschütterung gesprochen, dass dieses Kulturvolk der Deutschen in diese Barbarei abrutschen konnte. War das für Sie der Auslöser, verstehen zu wollen und letztlich PA zu studieren?

MM: Ach, so wie ich Feministin von Geburt an war, identifiziert mit meiner Mutter, die eben ihren Verlobten verloren hatte und mir gelegentlich davon erzählte, wenn
die ans Klavier ging und spielte, dann setzte ich mich drunter und ich war todtraurig. Und ich wollte immer wissen, was bedeutet das. Was geht in ihr vor. Das war mein Interesse, so lange ich bewusst denken kann, war der Wunsch zu wissen, was im anderen vor sich geht. Und diese Tendenz, zu wissen, was im anderen vor sich geht, und gleichzeitig auch zu wissen, dass ich den anderen verstehen muss, obwohl er anders ist als ich bin, ich ihn aber nur verstehen kann, wenn ich das irgendwo in mich hinein nehme, und irgendwo in mir ähnliche Gefühle entdecke. Das war mein Interesse für Psychologie und PA schon in der Pubertät. Ich habe gelesen, seitdem ich lesen konnte, wo ich nur irgendetwas erfassen konnte. Wie kann ich den anderen verstehen, wie kann ich mich verstehen, weil das das Gleiche ist.